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von Stefan R. Fischer

Der gute Bestatter

Was macht eigentlich einen guten Bestatter aus? Als ich selbst einen Bestatter bestattete, kam mir diese Frage und viele Erinnerungen an prägende Zusammenarbeit.

 

Ich stehe vor der Haustüre meines plötzlich verstorbenen Onkels und warte, dass er kommt. Ein komisches Gefühl. Ich bin aufgeregt, angespannt, da ist Unsicherheit. Was tun? Wie wird das ablaufen, wenn der Bestatter dann da ist?
Oft hat man die Wahl, wen man beauftragt. Der Markt um jede Leiche ist – gerade in Ballungsräumen – heiß umkämpft. 

In diesem Ort am Land gibt es nur einen Bestatter. Hermann. Ich kenne ihn vom Sehen. Die Begegnung, die gleich folgen wird, hat mich tief geprägt, auch mein Bild von einem guten Bestatter. Internetseite hatte er keine und einen Schauraum und Besprechungszimmer habe ich nicht gesehen. Man rief ihn an und er kam und hatte dabei, was nötig war. 

Mit seinem alten, schwarzen Ford Transit mit verdunkelten Scheiben und einem weißen Kreuz auf der Seite, fährt er vor. Er steigt aus und bleibt erst einmal bei mir stehen. Ich spüre eine Erleichterung in mir und kann nicht genau sagen, warum. Vielleicht, weil ich nun nicht mehr alleingelassen vor der Haustüre stehe. Mein Erschrecken über den Tod teilt er nicht. Anders als für mich war das schließlich nicht der erste Tote, zu dem er gekommen war. Er vermittelt Sicherheit. Jetzt ist jemand da, der weiß was man tun muss. Er strahlt Ruhe aus, hat Zeit erst einmal zuzuhören, was passiert ist. Er fragt: „Und?!“ (So fragt man dort, wenn man wissen will, wie es dem Anderen grade geht.)

Nach dem Erzählen kam dann die entscheidende Stelle bei der Begegnung: „Ich bin bloß allein, gehst mit? Langst a mal mit hin?“ Ich habe mich in dem Moment ertappt gefühlt. Verstanden, dass ich vor das Haus geflüchtet war, wie ich weggelaufen bin vor der Konfrontation mit dem zur Realität gewordenem Tod. Deswegen stand ich draußen. Das hat er wohl gemerkt. Ich habe mich nicht gezwungen gefühlt, sondern mitgenommen in das, was passiert ist. Er hatte offenbar ein Gespür für die Situation und das, was Menschen in der Trauer hilft. Bei mir war es genau das: Den Tod anfassen und greifen, das hat mir geholfen ihn als Realität zu begreifen – als etwas ganz Normales. 

Mein kleines Praktikum beim Bestatter war eine der ganz tiefen, bereichernden Erfahrung meines Lebens. Dafür bin ich ihm dankbar. Wir haben meinen toten Onkel gemeinsam gewaschen, angezogen und in den Sarg gelegt. Er hat ihn so behandelt, als wäre er noch da. Die Haare hat er so gekämmt, wie der Onkel sie immer gekämmt hatte. Alles hat passen müssen. Und als wir fertig waren, erinnere ich mich noch sinngemäß an einen Satz: „Das und ein Vaterunser hat jeder Mensch verdient“. Das haben wir dann gesprochen und den Sarg verschlossen. Das Vaterunser hat er immer gesprochen. 

Man hat dem Bestatter abgespürt: Für ihn war es eine Ehre, diesen Dienst an einem Menschen tun zu dürfen und ich war froh, dass er es war, der da war. 

Den Sarg hatte er auch schon dabei. Ich war erstaunt, ich habe keinen Sarg ausgesucht. „Na, du hast doch gesagt, verbrennen. Da nehmen wir keinen Eichensarg.“ Es war ein preiswerter, aber kein billiger. 

Das war vor genau 10 Jahren. Nun standen wir am Friedhof an Hermanns Grab. Ich im Talar. So war es der Wunsch. Wir haben öfter gemeinsam Menschen beerdigt. Gefühlt der ganze Friedhof stand voller Leute. Gefühlt war die halbe Stadt auf den Beinen, um das zu tun, was er an vielen Angehörigen derer getan hat, die dastanden. Und so bestatteten wir nun den Bestatter. Viele Stimmen habe ich im Vorfeld gehört, die seinen Tod als Verlust sahen: „Ich hätte mir gewünscht, dass Hermann auch meine Leute oder mich einmal abholt!“

Der Mann, der von Beruf eigentlich gelernter Bäcker war und als Bauhofmitarbeiter der Stadt das Bestattungswesen in den 1960er Jahren übernommen hat, hat nicht nur den Leichenwagen, sondern auch den Schneepflug gefahren, bevor er sich mit dem Bestattungswesen selbstständig gemacht hat. Er hat offensichtlich Vieles richtig gemacht. Und für mich ist er zum Sinnbild eines guten Bestatters schlechthin geworden. Obwohl er keine aufpolierte Mercedes E-Klasse gefahren hat, im schwarzen Anorak gekommen war und nicht mit Krawatte und weißen Handschuhen, mir nicht einmal alle Arbeit abgenommen hat, die man tut, um die Spuren, die der Tod so hinterlässt, wieder zu beseitigen - im Gegenteil: Er hat mich unerwartet zum Gehilfen befördert. 

Ja, auch ich hätte mir gewünscht, dass Hermann auch meine Leute oder mich einmal „abholt“. 

Heute wenn ich als Pfarrer – meinst ins Klinikum – zu Toten gerufen werde, habe ich keine Angst vor der Begegnung mit dem Angesicht des Todes. Ich empfinde es als Ehre, dann diesem Menschen einen Dienst tun zu dürfen, wenn ich ihn segne. Und irgendwie denke ich dann an damals. Hermann habe ich den großen Respekt abgespürt, den er meinem Onkel als Toten gezollt hat. Es war die letzte Würdearbeit, die man an einem Menschen tun kann. Er hat sie getan und mir die Chance gegeben mitzumachen. Als Ehre und Würdearbeit hat er es verstanden. Das war die Authentizität, die man eben nicht spielen oder als Inszenierung darstellen kann. Das persönliche Identifizieren mit der Tätigkeit. Handeln als Würdeakt für jemanden, der tot ist. 

Was macht einen guten Bestatter aus, frage ich mich schon lange. Als Pfarrer hat man mit verschiedenen Typen von Bestattern zu tun. Ehrlich dazugesagt: Nahezu alle, die ich kenne, würde ich guten Gewissens sofort weiterempfehlen. Ich ziehe meinen Hut vor der Tätigkeit dieses Berufsstandes und derer, die alles machen, um möglich zu machen, was Angehörigen gut tut. Aber Manches bleibt dennoch in Erinnerung. Schnell noch die fast schon mechanisch abgespielte Verbeugung vor dem Sarg, weil alle zusehen und weil es eben ehrvoll wirken soll, und dann genau das Gegenteil wird. Das Treten von Grabflächen unter denen Menschen liegen mit Füßen. Der Streit um die Terminfindung für die Bestattung, bei der mir einmal sogar Tiernamen begegnet sind, weil man nicht verstehen wollte, dass ich Donnerstag vormittags unterrichten muss. Der alte Blumenübertopf mit klebrigem Lehm und Baumarkt-Gartenschaufel für den Erdwurf oder die Verabschiedung des Toten erst einmal in der firmeneigenen Halle, was Einnahmen generiert u.v.m.

Hermann blieb mir auch in Erinnerung, aber als positives Beispiel.

Im Internet findet man Plattformen, die helfen, gute oder gar den besten Bestatter in meiner Stadt zu finden. Freilich sind Großstädte gemeint. Freilich geht es um Kommerz und Werbung. Die Kontaktdaten von Bestattungsinstituten werden vorgehalten und Kriterien des „guten Bestatters“ benannt, die freilich auf alle aufgeführten Institute zutreffen. Darunter unter anderem, dass ein detaillierter Kostenvoranschlag schriftlich überreicht wird, eine Internetseite existiert, auf der Qualifikationen und Angebote übersichtlich darstellt werden. Und: Das Erscheinungsbild des Betriebes entspricht „gehobenen Vorstellungen“.[1]

Ich habe gemerkt, dass es das alles nicht unbedingt ist. Zumindest nicht ausschließlich. Dass es das nicht ausmacht. Trauer ist eine natürliche Reaktion auf einen Verlust und stellt den Menschen vor Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, diesen Verlust als Realität annehmen zu können.[2]

Tote werden rechtlich ähnlich wie Sachgegenstände behandelt. Tote haben keine Rechte, die sie durchsetzen können und auch keine Pflichten, denen sie nachkommen müssen. Mit ihnen gerade nicht so umzugehen, als wären sie Sachgegenstände des Dienstauftrages ohne Rechte, zeichnet für mich den guten Bestatter aus. Ihn als Lebenden zu behandeln, auch wenn er oder sie tot ist. Das, was dieser Mensch war und ist, würdigen.

Situationssensibilität, Authentizität, Identifikation mit der Tätigkeit, der empathische Umgang mit den Trauernden, Bedürfnisorientierung, das Vorankommen in der Trauer fördern, in dem, was gedienstleistet wird, kommen dazu und so manch anderes sicher auch. 

Und dann merke ich, dass gute Bestatter und gute Pfarrer letztlich in der Haltung nicht viel voneinander unterscheidet. Eine gute Trauerfeier ist für mich, wenn der Verlorene noch einmal mit seiner ganzen Identität aufleuchtet. Der Verlust Thema ist. Der Mensch gewürdigt wird, sichtbar wird. Lebendig wird. Der Mensch, den wir, wenn er im Grab abgelegt wird, in Gottes Segenraum einbetten und abgeben. Diese innere Haltung war bei Hermann spürbar.

Am vollen Friedhof legen wir also nun Hermanns Urne zu seiner letzten Ruhestätte. So, wie er es über 1000 Mal gemacht hat. Am Ende der Trauerfeier sprechen wir ein Vaterunser. So, wie er es über 1000 Mal wohl gemacht hat. „Ein Vaterunser hat jeder verdient!“, zitiere ich ihn. 

Warum es ihm wichtig war, kann ich nur erahnen und ihn leider nicht mehr fragen. 

Ich glaube, mit diesem Gebet bitten wir darum, den Verlust annehmen zu können, loslassen zu lernen, und den Schmerz über diesen Verlust integrieren zu können – „Erlöse uns von dem Bösen!“. 

Wir nehmen Abschied in Frieden „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ 

Und als Christen vergewissern wir uns in dir Hoffnung, unser Ziel ist eben nicht das dunkle Nichts. „Dein Reich komme!“ 

Und wir rufen angesichts des Todes demütig in Erinnerung, dass über unserem Leben etwas Größeres steht. 

Oder offener formuliert: Dieses Leben hat Sinn und der Sinn liegt nicht in den Leistungen, die dieser Mensch vollbracht hat, sondern darin, dass er aus seinem Sein heraus Würde hat. Auch jetzt noch. 

„Ein Vaterunser hat jeder verdient“, sagte dieser gute Bestatter.

 


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[1] https://www.gute-bestatter.de/inhalt/qualifikation

[2] Kerstin Lammer, Trauer verstehen, Heidelberg 2014.