Ich bin Landpfarrerin. Auf meinen vielen Autofahrten komme ich an Gebäuden und Orten vorbei, wo ich Sterbende begleitet habe, Angehörige getröstet oder mit Familien Bilder ihrer Verstorbenen im Fotoalbum anschauen durfte. Wenn ich fahre, denke ich nicht in Kreuzungen oder Ampeln, sondern in Menschen: Hier war einer, der viel zu früh gestorben ist; hier haben wir geweint; hier haben wir gemeinsam Abschied genommen. Es ist meine innere Kartographie, meine persönliche Landkarte. Die Landkarte unserer Verstorbenen.
Jedes mal wenn ich vorbeifahre, schicke ich ein Gebet zu der verstorbenen Person und den Angehörigen. Ich stelle mir vor, dass es ganz nützlich wäre, das zu wissen: Dass auch Monate und Jahre danach ab und an jemand vorbeifährt und betet. Manchmal sind Trauernde nach ein, zwei Jahren einsamer als in der Akkutphase, weil sich wohlwollend-helfende Menschen schon längst anderen Themen zugewandt haben. Man kann sich schnell isoliert und vergessen fühlen.
Im Namen vieler Kolleg*innen kann ich sagen: Die Gebete gehen weiter. Die Verbundenheit hält an. Manch einer zündet Kerzen an oder betet am Ewigkeitssonntag. Ich fahre vorbei und weiß: Hier hast du gelebt und für dein Leben gern am Zaun mit Nachbarn geredet und gelacht. Ich denke an dich. Danke, dass ich dich verabschieden durfte. Ich nenne es: Gebet.
Julia Sollinger, Pfarrerin