Manchmal kommt es vor, dass Archäologen aus den Tiefen des Erdreichs ein Fundstück zutage fördern, dessen stumme Zeugenschaft uns veranlasst, unser Bild der Geschichten früherer Tage und Jahre noch einmal zu korrigieren.
Manchmal kommt es vor,
dass ein kleines analoges Schwarz-Weiß-Foto,
abgegriffen, durch viele Hände gegangen,
aufgehoben und eingeklebt in einem Familienalbum,
nach jahrzehntelanger flüchtiger Betrachtung
plötzlich neu zu sprechen beginnt,
sodass wir uns veranlasst sehen,
unser Bild früherer Vorgänge und Beziehungen,
das sich über lange Zeit gefestigt,
ja, verselbständigt hatte,
noch einmal zu korrigieren.
Da stehen auf einem Familienfoto
zwei seit Jahrzehnten geschiedene Eheleute
inmitten ihrer Angehörigen beide nebeneinander,
obwohl oft und einhellig erzählt worden war,
dass sie für immer geschiedene Leute waren,
und dass die Enttäuschung
und Verletzung durch die Scheidung
Wunden hinterlassen hat,
die bis zu ihrem Tod nicht heilen wollten.
Doch da stehen sie,
ja, ein bisschen unbeholfen und unsicher,
man spürt es ihrer Haltung und ihrem Gesichtsausdruck ab,
dass sie sich lange nicht mehr gesehen hatten,
dass es mühsam für sie war,
ohne den Ehepartner
einen neuen Stand für sich zu gewinnen.
Doch da stehen sie nebeneinander,
ja, hatten sich wohl bewusst entschieden,
zu diesem Familienfest gemeinsam zu erscheinen
und die bis dahin strikt abgelehnte Wiederbegegnung
zuzulassen.
Das Bild war von Anfang an
in dem Fotoalbum aufgehoben,
sogar beschriftet,
doch hundertemal achtlos überblättert,
mit einem hingemurmelten
„Ach ja, stimmt,
das kenne ich schon“ bedacht
nur kurz gestreift,
nie konnte der Blick länger auf den Abgelichteten ruhen.
Jetzt endlich ist der Anlass gekommen
das eigene Bild der früheren Geschichte
zur Seite zu legen
und das neu entdeckte Bild
in sich aufzunehmen.
Festgeschriebenes
ruft nach Befreiung.
(Franz Wich)