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von Nicola Rössert

Das Jahr magischen Postens

Vom Trauern, photographischer Schi’va und Grief Buddies auf Instagram.

Wer wir gewesen sein werden
Gestern war ich im Kino und habe einen Film gesehen. Den Dokumentarfilm eines jungen Regisseurs über den sehr plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen. (1) Einen Film, der sicher auch gemacht wurde, um das Unbegreifliche zu begreifen. Begreifbar zu machen. Den Unfalltod der Freundin. Die Trauer. Das neue Leben. Mit den Mitteln eines Dokumentarfilms für sich und die Zuschauer zu sortieren, was war, was passiert ist und wie man damit weiterleben kann. Ohne sie. Aber mit ihrer Liebe und den vielen Erinnerungen. 

Magical thinking
Ich musste an die amerikanische Journalistin Joan Didion denken, die den plötzlichen Tod ihres Ehemannes und Kollegen in ihrem Buch „Das Jahr magischen Denkens“ verarbeitet hat. Mit den Mitteln, die ihr als Journalistin zur Verfügung stehen. Recherche. Sortieren. Schreiben. In schwierigen Zeiten, hatte man mir seit der Kindheit beigebracht, soll man lesen, lernen, es durcharbeiten, Literatur befragen. Information heißt Kontrolle. (2) Joan Didion recherchiert zum Thema Leid. Tod. Und Trauer. Sortiert Informationen, Erfahrungen, Erinnerungen. Ihr Leben. Und schreibt ein wunderbares Buch, das wie der Dokumentarfilm, auch anderen Menschen dabei helfen kann, einen Ansatz für sich zu finden, um das Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen neu zu sortieren.

Magical posting
Seit einer gefühlten Ewigkeit bin ich in den Sozialen Medien unterwegs. Mal mehr, mal weniger. Zunächst beruflich, dann auch privat. Immer wieder ärgere ich mich über die Datenkrallen der Konzerne, manipulative Algorithmen, Hatespeech, Fakenews und Co. Und dennoch, das Netz ist immer wieder auch ein guter Ort. Hier bin ich auf Menschen getroffen, auf die ich sonst nicht getroffen wäre. Habe Projekte entdeckt, die ich sonst nicht entdeckt hätte. Halte losen Kontakt mit Herzensmenschen nah und fern, mit denen ich sicher nicht täglich telefonieren würde - und über deren Wiedersehen im „echten“ Leben ich mich immer wieder riesig freue. Reflektiere kleine Alltäglichkeiten, versuche schöne Momente festzuhalten. Absurdes. Lustiges. Banales. Trauriges. Und jetzt ist das Netz für mich auch ein Ort geworden, an dem ich immer wieder auch meine Trauer lebe. Erinnerungen und Zustände auf Instagram und manchmal auch auf Facebook in Wörter und kleine Bilder zu fassen versuche. Kleine Erinnerungen an die Zeit, als mein Liebling noch lebte. An ihn, an uns, an unsere kleine Familie. Viele kleine Alltäglichkeiten, fragile Scherben und Fragmente einer großen Liebe. Fotos von gemeinsamen und später “nachgewanderten” Wanderungen im geliebten Wald. Immer wieder auch der einsame Blick #amfenster aus meinem Mikrokosmos hinaus auf die immer gleiche Kreuzung im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Damit habe ich ziemlich früh begonnen und hatte instinktiv das Gefühl, das mir das gut tut. Mit Mikrogeschichten und kleinen quadratischen Fotos auf Instagram meinen Alltag zu strukturieren und die Erinnerungen zu sortieren und bewusst darin zu verankern. Mich zu erinnern. An meinen Liebling. An uns. Inzwischen auch an meine Mutter. Meinen Vater. Und vielleicht auch irgendwann an die kleine Babyschwester, die ich kaum erleben durfte. Die Vergangenheit so in Bezug zu einem gelebten Jetzt zu setzen erlaubt mir, mich für die Hoffnung auf eine Zukunft zu stärken. Die Liebe, das Alltägliche und Lustige, die Traurigkeit, das kleine Glück und immer wieder Momente der Hoffnung. Ein kleines Tagebuch, als privater Account behutsam geöffnet für ein paar Menschen, denen ich irgendwie vertraue. 

Photographische Schiv'a
Irgendwann habe ich entdeckt, dass ich damit nicht alleine bin. Ein Herzensfreund machte mich z.B.  auf den Instagram-Account von @whywelook aufmerksam: Der amerikanische Kurator, Fotograf und Autor Marvin Heiferman hat mit Beginn der Epidemie seinen Ehemann Maurice Berger durch Corona verloren und irgendwann seinen Instagram-Account immer mehr dafür genutzt, um an sein Leben mit ihm zu erinnern. Seine Fotos erzählen von lustigen Momenten, die sie gemeinsam erlebt hatten. Über Bergers Arbeit als Kulturhistoriker und sein Engagement gegen Rassismus. Von den einsamen Momenten des schmerzhaft durchnummerierten Home alone seit Maurice‘ Tod. Von den vielen  Leerstellen. Von den Dingen, die er liebte. Lieblingshemden. Kleine komische Plastikäffchen. Chinoiserien. (Hier habe ich nebenbei gelernt, dass man nicht gleich alles in die Altkleidersammlung geben oder die Wohnung komplett umräumen muss. Man darf das genauso machen, wie es einem gut tut. Dinge einfach behalten und genauso pflegen wie die Erinnerungen. Oder auch nicht.) In einem Interview beschreibt Heiferman, wie er in der schrecklichen Einsamkeit des einst gemeinsam bewohnten Hauses plötzlich entdeckt, dass das Fotografieren und tägliche Posten auf Instagram ihn irgendwie erden könnten. Waking up in our house and alone was horrible, but I started to think that if everything seemed completely out of control, Instagram might be a regular thing I could do that would ground me. […] I was, all of a sudden,  seeing things differently because I was surrounded by situations and stuff whose meaning had changed overnight. I was only able or interested in taking pictures about what I felt like and of things that reflected the emotional upheaval and vulnerable state I was in.  It became the only thing I was doing that made sense to me. I could barely eat or sleep, but making pictures made sense to me. (3) Heifermans Postings gewinnen für ihn zunehmend die Bedeutung einer photographischen Schi’va. (4) Seine Fotos sortieren und dokumentieren in Ausschnitten gleichzeitig sein Leben mit Maurice sowie sein neues Leben und die veränderte Perspektive auf Alltagsgegenstände, die nach dem Tod des geliebten Ehemannes eine neue Bedeutung gewonnen haben. Über diese Fotos bekommt er plötzlich und unerwartet Kontakt mit anderen Menschen. Mit Menschen, die von seiner Geschichte berührt werden und darauf reagieren. „Grief Buddies“, die selbst um einen geliebten Menschen trauern. Menschen, die mit ihm trauern. Sich nach seinem Wohlbefinden erkundigen. Die sich um ihn sorgen und auf Instagram zunehmend „nach ihm schauen“. And I decided not to hold back.  I’ve never been the kind of guy to wear my feelings on my sleeve, but that’s what I was doing visually. People talk about and criticize Instagram for being a branding exercise and there I was, I guess, a grief guy on Instagram. For all the talk in the media about death and dying, most people didn't personally know anybody whose life had been impacted or someone who had died because of COVID.  Now they did. (3) Seine Erfahrungen ermutigen Heiferman, als @whywelook weiterzumachen und dies als visuell geschulter Mensch noch bewusster und reflektierter zu tun. Als erfahrener Kurator, Fotograf und Autor plant er inzwischen, seine photographische Schiv’a als Buch herauszugeben. 

Der berühmte Fotograf André Kertész bekam nach dem Tod seiner geliebten Frau und Kollegin Elizabeth eine Polaroid-SX70-Kamera geschenkt und begann irgendwann, damit zu experimentieren und vom Fenster seines New Yorker Apartments aus zu fotografieren. Mit dem Erstellen dieser quadratischen Fotos hat Kertész sich lange vor Instagram aus einer schweren Krise gerettet: He mastered the camera and produced a provocative body of work that both honored his wife and lifted him out of depression, heißt es im Vorwort zu Kertész‘ Bildband The Polaroids. Er selbst wird hier zitiert: I began shooting slowly, slowly, slowly. But soon, going crazy. […] Suddenly, I’m losing myself, losing pain, losing hunger, and yes, losing the sadness. (5)

Das leere Blatt der Trauer beschreiben
Ein Film. Ein Buch. Ein Social-Media-Account. Ein Fotoband. Oder auch eine Musik. (Johann Sebastian Bach hat als Reaktion auf den Tod seiner Frau seine berühmte Chaconne für Violine komponiert.) Menschen, die versuchen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln - mit Wörtern, Fotos, Postings, bewegten Bildern oder Klängen - im Großen wie im Kleinen ihren Verlust zu verarbeiten, Erinnerungen zu sortieren und ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Und damit gleichzeitig etwas Neues zu schaffen, andere Menschen zu berühren und die Stille und das Schweigen, die den Tod so oft umgeben, zu brechen. Die Trauer und der Verlust als leeres Blatt, das beschrieben gehört, um zu erinnern und mit sich selbst und anderen Menschen in Kontakt zu kommen und das Leben neu zu ordnen.

(1) Wer wir gewesen sein werden, Regie: Erec Brehmer, Deutschland 2021
(2) Das Jahr magischen Denkens, Joan Didion, Ullstein 2021, S. 51
(3) Interview mit Marvin Heiferman
(4)  Als Schiv’a bezeichnet man im Judentum die Zeit der Trauer in der ersten Woche unmittelbar nach dem Begräbnis naher Angehöriger. 
(5) The Polaroids, André Kertész, New York/London 2007


Nicola Rössert, 05.08.2022